Den Besuch im Gerberviertel von Marrakesch hatten wir eigentlich nicht geplant. Wie wir doch dorthin gelangten und ob es sich gelohnt hat, verrate ich euch im folgenden Beitrag.
An unserem ersten Tag in Marrakesch haben wir keine Lust, ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Eine von uns schlägt vor, vielleicht doch ein Museum zu besuchen. Die große Masse ist träge, lässt sich lieber einfach nur treiben. Die hinteren vier Mädels trotten hinter den vorderen zwei her, die dann doch irgendwie die Richtung vorgeben. So streifen wir durch die engen Gassen der Stadt, biegen um dunkle Ecken, wandern vorbei an bunten, metallenen Haustüren, im Schatten der mit Lehm gepflasterten Hauswände. Wie schön, dass wir kein Ziel haben - ach ja, maximal das Museum. Mir ist alles recht.
In einer kleinen, unscheinbaren Gasse kreuzen sich unsere Wege mit einem Mann, der laut und mit wilden Gesten telefoniert: Mit einer Hand hält er sein Handy ans Ohr, mit der anderen schiebt er seinen Roller. Als er uns sieht, hält er abrupt an: Wohin gehen? Ich helfen. Das Museum, das wir suchen, sei sonntags geschlossen, aber das Gerberviertel und der daran anschließende Markt seien auch sehr interessant. Gerber - hat das nicht was mit Leder zu tun und ist es nicht ein ganz alter Beruf, so in etwa aus dem Mittelalter?
Ich Weg zeigen, sagt der Mann. Sollen wir seine Hilfe annehmen? Wir sind erst unschlüssig, folgen ihm dann aber. Das Gerberviertel... das könnte interessant sein. Gleichzeitig braut sich in mir eine dunkle Vorahnung zusammen; sie ist so dunkel wie die wunderschönen nussbraunen Augen des Mannes: Nichts ist doch hier umsonst, oder? Es ist doch bekannt, dass Touristen hier übers Ohr gehauen werden. Ich ringe mit mir: Warum ist mein Bauchgefühl so wie es ist, welche Stimmen sprechen da zu mir - etwa die meiner Eltern und die unzähliger Ratgeber für Reisen in nordafrikanische Länder? Pass bloß auf, dass du nicht verarscht wirst!
Ich verdränge die dunklen Stimmen, woher auch immer sie kommen, ich bin doch schließlich ich und kann selbst entscheiden. Carpe diem und so... Begegne jedem Menschen mit offenen Armen und mit offenem Herzen, das sollte doch mein Credo sein. Vielleicht ist der Mann einfach nur hilfsbereit - sowas soll es doch geben, wenn auch schwer vorstellbar für jemanden, der umgeben von der deutschen Reserviertheit aufgewachsen ist.
Wir folgen dem Mann zum Taxistand, erst zögerlich, dann mit schnelleren Schritten. Unser Helfer winkt zwei Taxis herbei, die uns in das Viertel bringen sollen, zum Abschied winkt er uns. Also doch, denke ich erleichert! Und eine von uns spricht es dann auch aus: Er wollte uns nur helfen und kein Geld verdienen! Es lohnt sich, an die Gastfreundschaft in dieser Welt zu glauben!
Die beiden Taxis biegen wenig später durch ein großes Tor in die Mauern der Altstadt ein und fahren rechts ran. Dort traue ich meinen Augen nicht: Unser Helfer von vorhin begrüßt uns auf seinem Roller, scheinbar ist er uns hinterhergefahren! Er bedeutet uns auszusteigen und zeigt auf einen weiteren Mann, der herbeieilt: Er zeigen Gerberviertel. Kostenlos. Kein Geld.
Natürlich wird uns spätestens jetzt klar, dass unser erstes Bauchgefühl richtig war: Wir befinden uns in einem abgekarteten Spiel. Aber jetzt sind wir nunmal schon hier, bisher haben wir kein Geld bezahlt und auch keiner Stadtführung oder ähnlichem zugestimmt. Warum also jetzt umdrehen? Das Gerberviertel könnten wir uns auch selbstständig anschauen. Oder etwa nicht?
Wir laufen einfach los. Ich drehe mich um und sehe, dass unser Helfer jetzt endlich auf seinem Roller davon fährt. Leider haben wir einen neuen Begleiter: Führung Gerberviertel. Interessant. Kostenlos. Viele Informationen. Wir winken ab, nein danke, wir möchten keine Führung. Schon bald sehen wir die ersten Ledergeschäfte, die wirklich schöne, handgearbeitete Taschen anbieten. Durch offene Türen können wir auch in die ein oder andere Gerberei schauen, trauen uns aber nicht hinein - alles sieht sehr privat aus.
Unser neuer Begleiter weicht nicht von unserer Seite. Den ersten in unserer Gruppe, neben denen er herläuft, erzählt er, dass es in diesem Viertel bereits seit langer Zeit Gerbereien gibt, in denen rohe Tierhäute zu Leder verarbeitet werden. Es beginnt zu stinken und wir nehmen dankbar den Strauß Minze an, der unsere Nasen vom intensiven ammoniakartigen Geruch ablenkt. Wir blicken durch Toreingänge, von denen ein noch extremerer Geruch ausgeht, als der, den wir bereits wahrnehmen. Und hinter denen tatsächlich gearbeitet wird. Das hier ist echt, es ist keine Kulisse, die für uns Touristen hier aufgebaut worden ist, nein, die Betriebsamkeit, das Ambiente, alles zeugt von echter, harter Arbeit, und von echten Menschen, deren Gesichter fast wie das Leder in ihrer Hand die Härte ihrer Arbeit wiederspiegeln.
Schon längst ist uns klar, dass diese Führung nicht kostenlos sein wird. Wir beraten uns schnell und einigen uns, dass das für uns auch in Ordnung ist. Mit voller Aufmerksamkeit sind wir bei dem, was unser Guide erzählt. Und wo er uns hinbringt: Er weist uns den Weg hinein in eine versteckte Gerberei, in der Tierhäute in großen Becken in Flüssigkeiten liegen. Auch zwischen den Becken, mitten auf dem Weg, im staubigen Dunst direkt vor unseren Füßen liegen Berge von Häuten, die von Kühen, Büffeln und Kälbern stammen. Weltweit werden übrigens auch Häute von Pferden, Schafen, Ziegen, Schweinen und exotischeren Tieren wie Kängurus, Elefanten, Haie, Delfine, Schildkröten, Krokodile und Schlangen verarbeitet. An den Hautlappen, die hier vor uns liegen, hängen teilweise noch Gliedmaßen oder Nasen dran. Wir versuchen, nicht so genau hinzuschauen, damit uns nicht schlecht wird.
Inmitten all der schlaffen Häute steht ein Mann hüfthoch in einer übelriechenden Flüssigkeit und arbeitet. Er schaut zu uns hoch, aber er möchte nicht fotografiert werden. Das respektieren wir. Unser Begleiter erzählt von seiner harten Arbeit. Keiner von uns möchte mit diesem Mann tauschen - was er leistet, ist unglaublich.
Wir lernen, dass die Gerbstoffe in den Becken das Hautgefüge stabilisieren, wodurch auch verhindert wird, dass die Häute faulen. Häufig wird dabei Wasser mit Salz, Kalk, Vogelmistbeize und Rinderurin vermischt, was den eklig beißenden Geruch erklärt. Beim Anblick des hart arbeitenden Mannes, der tagein, tagaus inmitten der stinkenden Flüssigkeiten steht, ist jedem von uns klar, dass die Arbeit gesundheitsschädigend ist. Tatsächlich leiden diese Arbeiter häufig an schweren Krankheiten wie Hautausschlägen, Asthma, Lungenkrebs oder Leukämie, insbesondere in jenen Billiglohnländern, in denen weniger strenge gesetzliche Regelungen herrschen. Durch eine schlechte Entsorgung der chemischen Substanzen, die zum Gerben verwendet werden, gelangen sie häufig ins Trinkwasser und bringen damit auch die in der Umgebung einer Gerberei lebende Bevölkerung in Gefahr. Davon abgesehen verschmutzen sie die Natur und beeinträchtigen den Lebensraum vieler Tiere. Laut Peta ist insbesondere das Gerben mit schwer recycelbarem Chrom, mit dem etwa 85% der weltweit vermarkteten Lederprodukte haltbar gemacht werden, besonders gefährlich. Aber auch andere Zusätze wie Formaldehyd, Schwefelsäure oder Natriumsulfat und Schadstoffe wie Proteine, Sulfide und Säuren, die in Gerbereien verwendet werden, sind giftig für Menschen, Tiere und Natur.
Gesundheitliche Schäden für die Bevölkerung vor Ort. Die Zerstörung der Natur. Die Gefährdung von Tieren. Mir schwebt eine einzige Frage durch den Kopf: Wozu das Ganze? Wäre es nicht besser, es einfach bleiben zu lassen? Und tatsächlich hat die Produktion von Leder weitere Nachteile: Häufig werden Tiere ausschließlich zum Zwecke der Lederproduktion gezüchtet oder gejagt und getötet. Selbst wenn es um Tiere geht, die für die Produktion anderer tierischer Produkte wie Milch und Fleisch gehalten werden, ist es für mich ein nicht weniger fraglicher Vorgang - sowohl aus ethischer Sicht als auch, weil wir mit der Produktion von tierischen Produkten Ressourcen verschwenden und zum Klimawandel beitragen.
Wir verlassen die Gerberei - mit gemischten Gefühlen - und biegen zurück in die kleine Gasse, die gespickt ist mit Ledergeschäften. Ich frage mich, ob das Konzept aufgeht: Will man jetzt wirklich noch ein Lederprodukt kaufen, nachdem man gesehen hat, wie Leder hergestellt hat? Ich will es nicht, nehme mir vor, in Zukunft auf Leder generell möglichst zu verzichten. Das ist nicht leicht, aber, auch kleine Schritte machen doch letztlich eine Veränderung aus!
Unser Guide wartet geduldig vor dem Ledergeschäft und führt uns dann in Richtung Marktviertel. Vor einer traditionellen Apotheke, von der er sicherlich ebenfalls Provision kassiert, verlässt er uns dann. Bevor er sich umdreht und geht, streckt er uns schließlich doch noch seine Hand entgegen: Geld. Bezahlen. Gute Führung. Okay, das hatten wir erwartet und weil es sehr informativ war, sind wir großzügig, rechnen einen angemessenen Betrag pro Person aus und runden am Ende noch auf. Unser Guide jedoch scheint nicht ganz zufrieden: Er nimmt das Geld, blickt uns abschätzig an, dreht sich wortlos um und zieht ab, ohne sich zu verabschieden oder zum Abschied doch noch zu lächeln. Schade, dass ein paar so interessante Stunden so enden. Und doch bin ich froh, hier gewesen zu sein. Am Anfang waren wir nur ein paar deutsche Touristen, die durch die Stadt streiften, jetzt wissen wir Bescheid: Über die Gerbereien, die harte Arbeit und auch ein wenig über die Menschen, die sie ausführen. Und darüber, dass wir es uns vielleicht in Zukunft dreimal überlegen, ob wir wirklich die neue Lederhandtasche brauchen oder ob eine aus Stoff genauso ihren Zweck erfüllt.
Hinweis: Alle im Blog veröffentlichten Fotos sind selbst geschossen. Das Foto dieses Beitrags ist es ausnahmsweise nicht, da es sehr schwierig war, in der Gerberei gute Fotos zu machen.
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