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  • AutorenbildHanna

Über das Vakuum des Reisens

Aktualisiert: 26. Juni 2019


Beim Reisen kommt es mir vor, als legte ich ein Hülle ab, an die ich gewöhnt bin und die mich für eine lange Zeit begleitet hat, Tag für Tag. Es ist die Hülle des Gewohnten, es ist das Gefühl, wie sich die Luft auf der Haut anfühlt, es ist der Geschmack des Brötchenfrühstücks vom Bäcker und es ist der Anblick der Häuser, Straßen und Schaufenster im Nachmittagslicht. So lange die Hülle da war, wusste ich gar nicht, dass es sie gab.


Aber jetzt, nach der Abfahrt des Zuges verändert sich etwas: Die Geschwindigkeit des Zuges erzeugt einen Wind, die Wände des Zuges bilden eine Hülle, die wie ein Vakuum ist, in dem ich weder hier noch dort bin, weder drinnen noch draußen, und selbst die Zeit ist eine unbestimmte, weil ich weder gerade abgefahren, noch gerade angekommen bin.


Es scheint, als sei hier alles möglich, denn die Menschen werden hier gleicher als draußen, die Unterschiede verschwinden. Der Professor ist nicht zu unterscheiden von allen anderen, den Müllmännern, Sekretärinnen, Chirurgen oder Informatikern. Nur, wenn man ab und an einen Blick auf das erhaschen kann, was der Sitznachbar liest, was er schreibt oder welche Musik er hört, kann man erahnen, was für ein Mensch da neben einem sitzt, welche Interessen er hat, welches Leben. Ansonsten ist es unbedeutsam, welche Herkunft, Sprache, Alter, Krankheiten oder Familiengeschichte die Menschen hier haben. Alle Unterschiede verschwinden zugunsten eines zweiklassigen Systems: Es gibt jetzt nur noch eine erste und eine zweite Klasse, und beides kann man sich erkaufen.


Während der Fahrt geben die Menschen die Kontrolle ab, denn sie müssen nicht mehr auf den Straßenverkehr achten, keine Aufgaben mehr lösen. Und, wenn sie nicht arbeiten müssen, lassen sie ihre Gedanken frei durch den Raum fliegen. Sie haben mehr Zeit als zu Hause, und sie beginnen, mit den Gedanken zu spielen, denken leise darüber nach, wie es wäre, an einem ganz anderen Ort zu leben. Vielleicht können sie sich auch vorstellen, am Zielort in ein anderes Leben zu schlüpfen, oder jemanden zu treffen, der zu einem anderen Leben gehört.


Es ist nicht sicher, was dort passieren wird und wen sie treffen werden. Mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit laufen sie der Liebe ihres Lebens über den Weg, finden in einer Ecke des Bahnhofs einen Hunderteuro-Schein oder werden Opfer einer Messerattacke. Es liegt ein Nervenkitzel darin, dass sie es einfach nicht wissen können. Manchen Menschen macht es Angst, andere inspiriert es. An einem fremden Ort ist alles möglich, das ist das Entscheidende. Ein neuer Ort bringt eine Variable ins Spiel, die unbekannt ist, eine Leerstelle in der Geschichte ihres eigenen Lebens, die sie selbst, das Schicksal oder der Zufall füllen werden.


Solange die Menschen aber noch nicht angekommen sind, sind sie noch nicht festgelegt. Sie können sich ebenso gut vorstellen, sie säßen nicht in einem Zug nach Frankfurt, sondern in einem nach Amsterdam, Paris oder Mailand. Oder sie säßen in einem Zug, der sie zu einem Flughafen brächte, von dem aus sie nach Amerika, Asien oder Australien flögen. Sie sind eben noch nicht angekommen. Alles ist möglich. Einfach alles.

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